Töchter des Meeres
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Targa kennt das Gefühl nichts Besonderes zu sein.
Kein Wunder, denn ihre Mutter Mira ist nicht nur atemberaubend schön, sie ist magisch. Niemand darf je erfahren, dass Mira sich bei Kontakt mit Salzwasser in eine Meerjungfrau verwandelt.
Leider hat Targa die Fähigkeiten ihrer Mutter nicht geerbt. Sie ist einfach nur ein Mensch und ihretwegen ist auch ihre Mutter an ein menschliches Dasein gekettet. Targa fürchtet, dass ihre Mutter sie eines Tages verlassen und ins Meer zurückkehren wird.
Doch als Targa in den Sommerferien ihre Mutter an die Ostsee begleitet, ist es Targa, die in den Tiefen des Meeres verschwindet und dort eine einfache Wahrheit erkennt:
Sie ist die Tochter ihrer Mutter.
Die Tochter des Meeres.
Kapitel 1 lesen
Kapitel 1 lesen
Ich schloss meine Augen, lehnte meinen Kopf gegen das Flugzeugfenster und stieß einen tiefen Seufzer aus. Endlich flogen wir! Es war das Ende einer Woche voller Schwierigkeiten und ich war überglücklich, mein altes Leben hinter mir zu lassen.
„Das erste Mal in einem Flugzeug?“,
fragte die Frau neben mir.
Ich drehte mich um und betrachtete
meine Sitznachbarin. Die Frau hatte kurzes, graues Haar, ein offenes Buch auf ihrem Schoß aufgeschlagen und schaute mich über ihre Brille hinweg mütterlich an.
„Mein erster transatlantischer Flug,
ja. Aber das macht mir nichts aus.“
„Nein?“
„Vorsicht“, warnte ich. „Wenn Sie
mich zum Reden bringen, bin ich nicht mehr aufzuhalten.“ Ich drehte mich zum Fenster zurück, zu meinem verzerrten Spiegelbild. „Ich rede zu viel. Sagt man mir jedenfalls.“
Die Dame war für einen Moment still.
„Der Flug ist lange genug. Was treibt dich nach Italien?“
„Ich habe eine Au-pair-Stelle
bekommen. Zwei kleine Jungen. Ich werde den ganzen Sommer dort sein und mich um sie kümmern.“
„Ah“, sagte sie. „Das klingt nach
der perfekten Erfahrung für jemanden in deinem Alter.“
„Ja, ich bin wirklich froh“,
antwortete ich.
„Warum dann so mürrisch?“
Ich kaute auf meiner Lippe herum.
Scham erhitzte meine Wangen und zu meinem Entsetzen konnte ich spüren, dass meine Augen feucht wurden. Ich wusste, ich hätte jetzt schweigen sollen. Ich hätte sagen sollen, dass ich müde war. Aber aus irgendeinem Grund tat ich es
nicht.
„Ich habe alles vermasselt“, sprach
ich den Gedanken aus, der mich schon die ganze Woche über quälte.
„Das ist menschlich.“
„Aber ich hasse es, stereotypisch zu
sein.“
„Stereotypisch?“
Ich zerrte am Ende meines feuerroten Pferdeschwanzes. „Ich bin rothaarig.“
„Ja, und?“
„Ich bin eine temperamentvolle,
emotionale Rothaarige“, fügte ich hinzu. „Glauben Sie, dass das Klischee stimmt? Das rote Haare emotional machen?“
Die Frau dachte einen Augenblick
lang nach. „Es heißt, Stereotypen existieren aus einem Grund. Der Grund ist, dass in ihnen immer ein Körnchen Wahrheit steckt. Ein Haar Wahrheit, wenn du willst.“ Sie wackelte mit den Augenbrauen.
„Sehr witzig.“
„Ich danke dir. Aber nein, ich
glaube, unter der Oberfläche sind wir alle temperamentvoll und emotional.
Vielleicht ist unser Temperament für einige von uns schwerer zu kontrollieren, aber das ist eine Frage der Übung. Und der Atmung.“ Sie hielt einen Finger hoch. „Atmen hilft.“ Sie schloss ihr Buch und steckte es in die Sitztasche vor ihr. „Was hast du denn vermasselt?“
Ich wickelte mein Kopfhörerkabel um
meinen Daumen. „Ich habe zwei Brüder. R.J. und Jack. Normalerweise verstehen wir uns ziemlich gut. Aber Jack – er ist ein paar Jahre jünger als ich – regt mich schon die ganze Woche auf. Er hat den Verschluss an meinem Gepäck aufgebrochen
und dann meinen Pass versteckt und gelacht, während ich drei Tage lang
verzweifelt nach ihm gesucht habe.“
„Wie frustrierend.“
Ich nickte. „Das war es. Und dann
vor drei Nächten, nach dem Abendessen, sagte Dad zu Jack, dass er mit dem Abwasch dran sei, aber er ging stattdessen sein Videospiel spielen. Ich habe es zuerst nicht bemerkt, weil ich packen musste. Aber dann kam ich in die Küche und alles war immer noch ein Desaster. Meine Mutter war mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen und Dad war mit R.J. in der Garage. Ich hatte es so satt, dass ich explodierte.“ Ich hielt inne, und mein Herz klopfte, als ich den Moment
noch einmal durchlebte.
„Was hast du getan?“
„Ich stürmte in sein Zimmer und ...“
Ich holte tief Luft und legte meine Hände an meine Wangen. Mein Gesicht fühlte sich an, als würde es verbrennen. Meine Stimme schwankte. „Ich trat ihm seinen
Controller aus den Händen und packte ihn am Nacken, ziemlich hart. Ich hob ihn auf und schob ihn zur Tür und schrie ihn an.“ Ich verstummte und schloss meine Augen wegen der schrecklichen Erinnerung an das, was als Nächstes kam.
Die Dame wartete.
„Ich wollte das nicht ...“ Ich
räusperte mich. „Er rutschte aus. Sein Zimmer ist immer eine solche Müllhalde. Er fiel hin. Ich meine, wir sind beide gefallen. Aber er schlug gegen den Türpfosten. Das Knacken ...“ Ich schauderte.
„Ist er in Ordnung?“
„Er schlug mit dem Gesicht dagegen.“
Sie zog eine Grimasse.
„Er brach sich den Vorderzahn ab und bekam ein blaues Auge.“ Ich rieb mir das Gesicht und versuchte, die Erinnerung auszulöschen. „Da war eine Menge Blut. Ich dachte, ich würde krank werden. Nicht von dem Blut, na ja, vielleicht teilweise, aber ich ...“
„Du hast dich schrecklich gefühlt.“
Ich nickte und schaute aus dem
Fenster in das schwarze Nichts. „Das tue ich immer noch. Meine Eltern sind ausgerastet. Sie haben mir befohlen, Venedig abzusagen.“
„Aber du bist hier. Also, was ist
passiert?“
Ich drehte mich wieder zu ihrem
freundlichen Gesicht um. „Jack. Er wusste, dass es mir leidtat. Ich saß zwei Tage in meinem Zimmer und konnte nichts essen. Also brachte er meine Eltern dazu, ihre Meinung zu ändern. Er gab sogar zu, mich die ganze Woche über terrorisiert zu haben.“
„Klingt nach einem lieben Jungen,
tief drinnen.“
„Ja, das ist er. Besser als ich.“
„Ich bin mir sicher, dass das nicht
wahr ist.“
„Wie lieb kann ich sein, wenn ich
meine Emotionen nicht zügeln kann und am Ende Leute verletze?“
„Jack vergibt dir. Klingt, als
würden deine Eltern das auch tun. Warum vergibst du dir nicht selbst? Du bist jetzt ein Au-pair. Eine perfekte Gelegenheit, Geduld und Kontrolle zu üben, nicht wahr?“
„Stimmt. Theoretisch.“
„Lass die Vergangenheit hinter dir.
Lerne aus ihr, aber lass dich nicht festhalten. Wir alle machen Fehler. Lass sie los, um besser zu werden.“
Mein Magen zog sich bei der
Erinnerung an Jacks blutiges Gesicht zusammen. Ich verschränkte die Arme und atmete langsam aus. „Das werde ich.“